Der Blick des Mädchens

Was würde ein schwarzes Mädchen beim Anblick der Statue von General Robert E. Lee sehen? Die Attribute männlich, weiß, kriegerisch und schwarze Menschen ausbeutend würden einem schwarzen Mädchen keine Identifikationsmöglichkeiten bieten, meinte Mitch Landrieu, Ex-Bürgermeister von New Orleans, sinngemäß in einem Interview, als er nach seinen Überlegungen zur Demontage des Denkmals  gefragt worden war. Robert E. Lee war Sklavenhalter und weißer Heerführer im US-amerikanischen Sezessionskrieg. Seine Statue wurde auf Beschluss des Gemeinderates 2017 entfernt.

Welche Identifikationsmöglichkeiten bietet Österreich 2018 Mädchen? Auch bei uns sind die meisten reichen und mächtigen Personen in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Medien weiß und männlich. Falls Frauen hier vorkommen, so haftet ihnen immer etwas Besonderes an. Mehr oder weniger freiwillig erklären sie, wie sie „diese Doppelbelastung“ schaffen, und sind jedenfalls in der Minderzahl. Auch in den Statistiken kommen Frauen hinsichtlich ihrer Wirtschaftskraft und Teilhabe (Einkommen, Vermögen, Anteil an Führungspositionen etc.) schlecht weg. Dafür führen sie als Opfer von Gewalttaten die Statistiken an, ebenso wie die Opferzahlen in den Fernsehkrimis.

Vielleicht, denkt das Mädchen, hängt all das mit den Aufgaben der Frauen in ihren Familien zusammen: Die Kinder werden von den Frauen nicht nur geboren, sondern auch gepflegt und erzogen, die ganze Familie wird von der Mutter versorgt, alle Haushaltsarbeiten werden von der Mutter erledigt, und wenn Oma, Opa, Tante oder  Onkel krank sind, dann werden auch sie noch mitbetreut. Klar, dass so  weniger Zeit zum Geld verdienen bleibt.

Eigentlich gar nicht so viel anders als früher, denkt das Mädchen im Geschichtsunterricht: Vermögen und Kriegsdienst als Basis politischer Mitbestimmung zieht sich durch die europäischen Gesellschaften vom antiken Griechenland über das Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Folgerichtig, dass Frauen, die kraft Gesetz weder Besitz hatten, noch in den Krieg ziehen durften, ausgeschlossen waren. Ihre Beiträge für die Gesellschaft, das Gebären und Großziehen der nächsten Generation, die Haushaltsorganisation und Lebensmittelproduktion, die Versorgung aller Familienangehörigen inklusive der Alten und Kranken und die Aufrechterhaltung der Gemeinschaft während die Männer im Krieg waren,  zählten in den Augen der Herrschenden nicht als durch politische Mitbestimmung zu entschädigender Beitrag zum Staatswesen.

Aber immerhin können Frauen nun seit 100 Jahren in Österreich wählen, liest das Mädchen in der Zeitung. Eigentlich müsste doch dieser politische Einfluss die wirtschaftliche Gleichstellung bewirkt haben, überlegt das Mädchen. Frauen können ja auch schon seit fast ebenso vielen Jahren höhere Schulen und Universitäten abschließen und bekommen dabei meist auch gute Noten. Eigentlich schade, denkt das Mädchen im Wirtschaftsunterricht, wenn so viele Ressourcen in die Ausbildung investiert werden und diese dann gar nicht richtig angewandt werden kann.

Am Nachhauseweg geht das Mädchen an verschiedenen Geschäftslokalen vorbei, die rot und schwarz angemalt sind. Love, Bar und Mädchen steht dort geschrieben. Jederzeit verfügbar.